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Wenn man auf der Straße unterwegs ist, sollte man nach Möglichkeit zumindest vorgeben, ein Ziel zu haben. In dem Moment, in dem jemand stehenbleibt, stürzen sich die fliegenden Händler auf ihn und bieten an: Taschenmesser, Ginsu-Messersets, Parfums, Kabel, Zangen, Hämmer, Massagegeräte, Handnähmaschinen, Fusselrasierer, CD‘s, Vorhängeschlösser, und, und, und. Wenn man also ganz unschuldig vor einem Schaufenster steht – falls genug Platz auf dem Bürgersteig ist, um es auch zu sehen – kann es gut passieren, daß es mit einem Mal auf der Schulter zu brummen anfängt (Massagegerät), neben dem Ohr rattert (Handnähmaschine), man mit einem Mal eine Sonnenbrille auf der Nase hat, unter derselben schwebt eine Parfumpackung, und irgendwer schreit einem was von Qualitätsarbeit (die Ginsu-Messer) ins Ohr. Bis man sich aus dem Pulk von verkaufswilligen Händlern befreit hat, dauert es nicht unter fünf Minuten, je blasser man ist, desto höher ist der Zeitaufwand. Viele Leute haben mir erklärt, ich müsse aufpassen, daß mir niemand mein Geld stiehlt, aber das ist mir noch nie passiert. Die ganz große Mehrheit der fliegenden Händler ist „ehrlich”, will heißen, sie verkaufen ihre Ware zwar zu Wucherpreisen, aber sie kämen im Traum nicht auf den Gedanken, ihre potentiellen Kunden des kostbaren Geldes zu berauben. Die Ehrbegriffe hier sind ausgesprochen merkwürdig. Betrug ist ein Fremdwort für die Leute hier. Daß heißt nicht, daß sie nicht betrügen, es heißt nur, daß sie Betrug nicht als Fehlverhalten ansehen. Jeder, der ihnen in die Finger gerät, hat die Möglichkeit, sich zu informieren. Wenn er das nicht tut und Waren welcher Art auch immer zu geradezu irrwitzig hohen Preisen erwirbt, will er nach Ansicht der Händler diese Preise bezahlen. Wenn er sich informiert, kann er ja herausfinden, was die Sachen wirklich kosten und dann dem Händler eine freundliche, aber bestimmte Abfuhr erteilen. Ich selbst werde meistens entweder für eine Brasilianerin oder eine Amerikanerin gehalten, was anfangs meine Gänge in die Stadt zu einem wahren Spießrutenlauf gestaltet hat. Inzwischen sage ich einfach nur freundlich lächeld „Danke“, nicke mit dem Kopf und gehe weiter. Nötigenfalls sagt man noch „Entschuldigung“ und tritt einem Händler im Vorbeilaufen kräftig auf den Fuß, dann kapieren eigentlich alle, daß man nichts haben will.

An den Verkaufstischen kann man allerdings wirklich preiswert einkaufen, wie ich oben schon sagte. Wer das Glück hat, Paraguayer zu sein oder für einen solchen gehalten zu werden, bekommt die Waren zu einem erstaunlich niedrigen Preis angeboten. Wenn man etwas blaß im Gesicht ist, muß handeln. Ich habe mich inzwischen zum reinen Schacherprofi entwickelt. Das läuft dann so ab: Ich gehe an einen Tisch und sehe mir eine Bluse an. Sie hat nicht die richtige Größe (das hat sie nie, ich bin ja sehr groß). Dann kommt ein Verkäufer oder eine Verkäuferin. „Das ist wirklich eine wunderschöne Bluse,“ sagt er/sie. „Ja,“ sage ich, „nur ein bißchen klein. Gibt’s die auch größer?“ „Aber ja, Señora, selbstverständlich! Hier!“ Dann wird alles ausgebreitet, was auch nur annähernd aussieht, wie die Bluse, die ich mir angesehen habe. Zufällig ist meistens das Modell, das ich haben wollte, nicht dabei, aber oft doch sehr hübsche Sachen. Ich sehe mir die Klamotten an und zeige Interesse an einer anderen Bluse. „Was soll die denn kosten?“ „Nur 30.000 Guaranies!“ Dieser Preis löst einen herzlichen Lachanfall meinerseits aus. „Was? 30.000? Bist du noch zu retten? Das Ding ist höchstens 10.000 wert!“ „Aber Señora! Ich muß doch meine Familie ernähren! Zuhause ist meine Frau mit den acht Kindern und ich muß auch noch meine Eltern und Schwiegereltern miternähren! Sie sind doch reich und können sich gar nicht vorstellen, wie das ist!“ „Moment! Wie kommst du auf den lächerlichen Gedanken, daß ich reich wäre? Nur weil meine Nase so weiß aussieht? Ich arbeite in diesem Land und verdiene mein Geld hier! Wie schwer das ist, weißt du auch, und ich habe einen Mann und zwei Kinder. Wir müssen auch sehen wo wir bleiben!“ „Señora, du zerrüttest mich! Gut, nur für dich: 25.000! Aber nur, weil ich so ein gutes Herz habe!“ Neuerlicher Lachanfall. „Du bist gut! 25.000! Da kann ich ja in eine der Galerien mit Klimaanlage und Marmor gehen, dann kriege ich’s noch billiger! Nun laß’ mal einen vernünftigen Preis hören!“ „Oh, meine Mutter wird hungern müssen! Gut, 20.000.“ Neuerlicher prüfender Blick auf die Bluse. Meistens finde ich einen losen Knopf oder einen Faden, der ‘raushängt. „Und das? Was ist das denn? Da muß ich ja erstmal nachnähen, bevor ich mir das anziehe! 15.000, höchstens!“ (Hier ist der Verkäufer/die Verkäuferin den Tränen nahe – die Leute sind echte Schauspielerbegabungen) „Señora! Das kannst du mir nicht antun! Wie soll ich denn das ganze Essen für meine Familie kaufen! 18.000, mein letztes Wort!“ „Gut, 18.000. Aber nur weil ich so großes Mitleid mit deiner Familie habe!“ Die Bluse wandert in eine umweltschädliche Plastiktüte, die Tüte in meine Hand, dann wird bezahlt. Wir verabschieden uns mit dem guten Gefühl, ein schönes Gespräch über Waren und Familie geführt zu haben, ich weiß, ich habe nur geringfügig zuviel bezahlt, der Verkäufer/die Verkäuferin ist glücklich, weil er/sie wenigstens ETWAS mehr aus meinem Kreuz leiern konnte, alle sind zufrieden. Das ist übrigens eine Taktik, die man als Europäer immer anwenden sollte, wenn man nicht sein wohlverdientes Geld zum Fenster herausschmeißen will. Die Bluse kostet im Einkauf nämlich grundsätzlich nicht mehr als 10.000 Guaranies und die Verkäufer hier zahlen keinerlei Standgebühren oder gar Steuern. Die 8.000, die ich mehr bezahlt habe, als der ungefähre Einkaufspreis ist, sind also Reingewinn. Wenn man überlegt, daß die Kinderschar sicherlich nicht ganz so groß ist (wenn acht erwähnt werden, sind es meistens nur vier, denn so ein Verkäufer sieht vor Gier öfter mal doppelt) und der ganz große Teil dieser Leute ein eigenes Grudstück besitzt oder abzahlt (in Monatsraten zu 50.000 Guaranies), so daß sie meistens keine Miete zahlen, kommt man für eine sechs- bis achtköpfige Familie hierzulande auf allerhöchstens (aber da sind wir schon im Luxusbereich) eine Million Guaranies Lebenshaltungskosten, alles, aber auch wirklich alles inklusive. Bedenkend, daß der Reingewinn pro Bluse meistenteils weit höher liegt als in dem oben geschilderten Fall, kann man sich ausrechnen, daß die Straßenhändler am Monatsende garantiert noch Geld übrig haben – im Gegensatz zu meiner Familie!

Wie leben die Leute hier eigentlich?

In Paraguay lebt das Gros der Bevölkerung von einem Einkommen, das jedem deutschen Sozialhilfeempfänger die Lachtränen in die Augen treiben würde. Die meisten Leute haben eigenen Grund und Boden, meistens ein kleines Grundstück mit einem Holzhäuschen drauf und einem kleinen Gemüsegarten. Viele halten sich Hühner, Enten, vielleicht ein Schwein, manche eine Kuh, der Ernährungslage wegen. Die durchschnittliche Familie besteht hier aus einem Ehepaar oder nur einer Frau (Männer wechseln häufiger mal den häuslichen Rahmen), ungefähr fünf Kindern – in seltenen Fällen sind es auch schon mal zehn oder zwölf, weniger als drei aber nur, wenn entweder die (mehr oder weniger wilde) Ehe nicht länger als zweieinhalb Jahre gehalten oder bisher gedauert hat – und noch ein oder zwei weiteren Verwandten, meistens Großeltern, Onkel, Tanten oder die Kinder aus der Verwandtschaft. Das macht zusammengenommen etwa zehn Personen pro Haushalt im Schnitt, drunter geht es meistens nicht ab. Normalerweise arbeiten die Kinder mit, sobald sie können, d. h. wenn sie etwa acht Jahre alt sind. Sie verdingen sich in der Stadt als Schuhputzer, Auto-Aufpasser, Verkäufer, Windschutzscheiben-Putzer und auf dem Land als Landarbeiter. Die Mädchen gehen meistens „in Dienst”, mit etwa zwölf Jahren fangen sie als Kindermädchen an, bis sie dann mit etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren als Haushaltsvollkraft arbeiten können. Die meisten Jungen besuchen die Schule bis zur fünften Klasse, was sie in die Lage versetzt, die Revolverblätter durchzubuchstabieren und nachzurechnen, wieviel Weihnachtsgeld ihnen zusteht. Bei den Mädchen sieht’s noch schlechter aus, die meisten verlassen die Schule in etwa nach der dritten Klasse. Motto der Eltern: Mädchen müssen hübsch sein, um einen Mann zu bekommen, Bildung brauchen sie nicht. Auch ‘ne Ansicht, aber bitte. Die breite Masse der Stadtbevölkerung (Asunción, Ciudad del Este, Encarnación, Villarrica) spricht gut bis leidlich spanisch, auf dem Land kommt man viel eher mit Guaraní weiter (mehr dazu bei  Wolf Lustig ). Die Haupteigenschaft des Paraguayers an sich ist Großzügigkeit in jedem guten und schlechten Sinn des Wortes. Wann immer, wo immer man sich in das Haus eines Paraguayers verirrt, man bekommt sofort einen Stuhl unter den Allerwertesten geschoben, die Dame des Hauses rennt, damit man auch zu essen und zu trinken bekomme und dann wird erzählt. Fremde werden ausgefragt bis ihre Lippen fransig sind vom Antworten. Dann wird das Haus und der Garten und die Tiere und die Kinder und überhaupt alles hergezeigt, was man so hat. Eine unglaubliche Anzahl der Leute hier hat übrigens Deutsche in der Verwandtschaft, oder mal für Deutsche gearbeitet oder deutsche Freunde oder ist schon mal in Deutschland gewesen. All dieses wird dann natürlich auch von oben und unten beleuchtet und durchdiskutiert.

Nachbar, leih mir deine Säge!

Die Verhältnisse, unter denen die Menschen, von denen ich hier spreche, leben, sind, wie gesagt, vom deutschen Standpunkt aus, mehr als ärmlich, aber sie sind’s zufrieden. Und sie haben etwas, das weit, weit wertvoller ist als jedes große Haus, jede Klimaanlage, jedes Auto und alles Geld der Welt: Sie haben Zeit! Wenn hier ein Mann die Säge vom Nachbarn ausborgen will, läuft das so (das hat mir einer erzählt, der’s wissen muß): Der Señor López geht zum Señor Gomez an den Zaun. Dort klatscht er heftig in die Hände (Holzhäuser sind bekanntlich sehr hellhörig, also erübrigt sich die Klingel). So er ein Auto zur Hand hat, hupt er kräftig. Señor Gomez kommt raus und freut sich riesig, Señor López zu sehen, bittet ihn herein, stellt ihm einen Stuhl auf die Veranda und dann wird erstmal Tereré geschlürft.

Jetzt wollen Sie wissen, was Tereré ist, nicht wahr? Man nehme das ausgehöhlte Horn einer Kuh (typische Methode), einen Blechbecher (moderne Methode) oder einen Holzbecher (gediegene Methode) und fülle ihn mit den getrockneten und kleingemöllerten Blättern des Yerba-Strauchs; die Behältnisse führen übrigens den schönen Namen „Guampa”. Dann steckt man eine Art blechernen Strohhalm hinein (auch hier gibt es verschiedene Varianten, vom ehemaligen Auto bis hin zu Silber – sehr nobel), der am unteren Ende eine Art kleines Tee-Ei anmontiert hat. Dieses Gerät heißt Bombilla (zu deutsch: Pümpchen). Jetzt schüttelt man die Yerba so zurecht, daß sie schräg im Becher liegt und gießt auf das „untere“ Ende ganz, ganz, kaltes Wasser, wenn möglich noch mit Zusatz von Yu-yo (sprich: dschu-dscho), Heil- bzw. Unkräutern, ganz wie man es zu sehen beliebt. Sie sind normalerweise erfrischend, verdauungs- oder potenzfördernd. Den ersten Schluck läßt man in der Yerba versickern, den zweiten kann man dann meistens schon durch die Bombilla nuckeln. Man spuckt ihn aber besser weg, denn er ist teuflisch bitter. Ab dem dritten Schluck (Hygienebewußte sollten jetzt erst ab dem * weiterlesen) macht der Becher die Runde unter den jeweils Anwesenden. *So kommt man Schluck für Schluck an die nötige zusätzliche Flüssigkeitszufuhr und immer an ein gutes Gespräch.

Ja, Señor Gomez und Señor López trinken jetzt also Terreré. Und sprechen vom Wetter. Von der Familie. Von der Wirtschaftskrise. Von früher. Von der Zukunft. Das geht dann mindestens eine Stunde lang so. Wenn dann die anderthalb bis zwei Liter Wasser, die man dabei so trinkt, durch die Kehlen gelaufen sind, steht Señor López auf und verabschiedet sich, vielleicht macht man auch noch eine Runde durch den Garten. Wieder am Zaun angelangt, stehen die beiden noch einen Moment und gucken sinnend in die Ferne, bis dann Señor López sagt: „Ach, was ich noch fragen wollte, könntest du mir vielleicht deine Säge ausleihen?“ Daraufhin wird er die Antwort: „Aber selbstverständlich!“ erhalten und Señor Gomez wird losrennen und seine Säge suchen. Wenn er sie nicht vor zwei Wochen oder so einem anderen Nachbarn geliehen hat, wird er sie bringen und dem Señor López in die Hände drücken, der dann beglückt mit der Säge abzieht. Wenn Señor Gomez die Säge einem anderen Nachbarn geliehen hat, wird er sein tiefstes Bedauern ausdrücken und Señor López bitten, doch morgen nochmal vorbeizuschauen. Der wird wieder nach Hause gehen, Señor Gomez aber den anderen Nachbarn aufsuchen, der sich hocherfreut zeigen wird, ihn zu sehen, ihm einen Stuhl auf die Veranda stellen, die wohlgefüllte Guampa, die Bombilla und die Wasserkanne holen wird und dann wiederholt sich die oben angeführte Prozedur. Sollte jetzt etwa der Nachbar die Säge seinem Freund ausgeliehen haben, geht all dieses noch einmal von vorne los. Wie gesagt, die Leute hier haben Zeit. Es kann durchaus mehrere Wochen dauern bis man die vom Nachbarn zurückgeforderte Säge wiederbekommt. Das macht aber überhaupt nichts, denn säg‘ ich heut‘ nicht, säg‘ ich morgen, so einfach ist das. Müßig zu sagen, daß kein Mensch hier etwas von selber zurückbringt.

Jeder echte Deutsche, der hierherkommt und diese Sitten und Gebräuche nicht kennt, wird auf der Stelle wahnsinnig, vor allen Dingen dann, wenn sein Nachbar seine Säge geliehen hat.

Alfons
Oder: Gott schütze mich vor Sturm und Wind und Deutschen, die im Ausland sind!

Ja, Gelassenheit ist sowieso ein Zauberwort. Gelassenheit sollte der abenteuerlustige Teutone, der sich in hiesige Breiten wagt, wirklich mitbringen. Wieviele Deutsche ich schon unter der großen Verantwortung, den Paraguayern die Bedeutung des Begriffs „Ordnung“ beizubringen, habe zusammenbrechen sehen, geht auf keine Kuhhaut. Da war zum Beispiel einer, der meinte er könnte bayerisch mit den Leuten hier reden („De vastehn des scho!“). Zufälligerweise war der Gute in Deutschland sehr kurz vor seiner Abreise noch an eine ausgesprochen reichlich bemessene Menge Geldes gekommen (weswegen auch seine Amexco-Platin-Karte abgelaufen war) und so kaufte er sich ein Grundstück im Grünen und heuerte Menschen, die ihm beim Bau seines gigantischen Hauses behilflich sein sollten. Der Mann tut mir heute noch leid! Die erste echte Überraschung harrte seiner, als er eines regnerischen Tages auf seiner Baustelle erschien und dort noch nicht einmal eine Maus antraf. Unverschämtheit! Arbeitsverweigerung! Polizei! Richter! Was er hätte wissen können, denn wir hatten’s ihm erzählt: Bei Regen fällt hierzulande Arbeit aus wegen ist nicht. Die meisten Leute, die sich mit den niederen Diensten des Lebens beschäftigen, haben ihr oben beschriebenes eigenes Grundstück nämlich nicht, wie sich das für die deutsche Vorstellung gehört, an einer ordentlich asphaltierten Straße mit Bürgersteig. Nein, um dorthin zu kommen muß man meistens erst einmal ein bis drei Kilometer Erdstraße (größerer Feldweg) hinter sich bringen. Sobald es aber regnet, verwandeln sich diese Erdstraßen in Rutschbahnen, die durchaus mit nach einem Eisregen überfrorenen Straßen in Deutschland zu vergleichen sind – mit dem kleinen, aber unangenehmen Unterschied, daß sich, wenn man dort fährt, ohne weiteres einer der Reifen im Untergrund versenken kann. Also fahren umsichtige Busfahrer bei Regen gar nicht erst dort entlang. Zu Fuß dort hinauszukommen ist ebenso unmöglich, man versinkt im Morast. Also hat man frei. Das passiert mindestens zweimal im Monat. Unser bayerischer Freund, wollen wir ihn mal Alfons nennen, denn er heißt nicht so, Alfons also war am Boden zerstört. Er hatte doch so große Pläne! Wir standen kopfschüttelnd daneben und fragten uns, wieso zwei bis drei Tage im Monat ihn derartig zurückwerfen könnten. Jetzt wissen wir’s: Er hat diese Tage bezahlt! Himmel, haben wir gelacht!

Alfons war, solange er sich hier aufhielt sowieso unser größter Unterhaltungsfaktor. Was ich nie vergessen werde, war, wie er eines Tages wutentbrannt mit einer Plastikschüssel in der Hand in den Lebensmittelladen an unserer Tankstelle gestürmt kam, sich vor der Kassiererin (die alle Hände voll zu tun hatte) aufbaute und sie auf oberbayerisch anschimpfte: „Des is a Unvaschämtheit! Jeds wui i an Kuchn backn und klopf dees Oa auf, do is des faul! Jeds ersetzt’s ma sofort des Mehl und de Oa, host mi?“ Für Nichtbayern: Er führte Beschwerde darüber, daß das dritte Ei, das er aufgeklopft hatte, und – Vorsicht, Mann in der Küche! – nicht vorsichtshalber in ein Glas sondern sofort auf’s Mehl hatte flutschen lassen, faul gewesen sei, und begehrte Ersatz-Mehl und Ersatz-Eier. Daß er die Eier in diesem Laden käuflich erworben hatte, vergaß er zu erwähnen, es wäre aber auch ebenso nutzlos gewesen wie die gesamte Beschwerde, denn Paraguayer verstehen wirklich kein Wort Bayerisch. Die Kassiererin, die nur einen ungezogen herumschreienden Menschen vor sich sah, der versuchte, ihre Arbeit zu behindern, führte ihr Tun ganz einfach fort, ohne den lieben Alfons auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie hätte ihm ihre Aufmerksamkeit schenken sollen, denn Alfons kann es nicht ertragen, ignoriert zu werden. Wer so ungeheuer viel Geld hat, kann sich ja anderenorts auch den Respekt seiner Mitmenschen kaufen – hier nicht. Um nun die Aufmerksamkeit der Kassiererin zu erlangen, entleerte er kurzerhand die in der Schüssel befindliche, nicht gerade wohlriechende Pampe über ihrem Computer. Monitor, Rechner, Tastatur, Hände, Hose, Hemd, alles voll des übelriechenden Eiermatsches. Alfons hatte sein Ziel erreicht, er hatte die volle Aufmerksamkeit der Kassiererin, die ihm erstmal herzhaft eine langte. Außerdem hatte er die volle Aufmerksamkeit jedes im Laden anwesenden Mitmenschen, einschließlich Ladenbesitzer und Sicherheitsdienst. Die fanden das garnicht lustig. Der Sicherheitsdienst hielt ihm erst einmal eine geladene Schußwaffe unter die Nase, der Ladenbesitzer rief die Polizei. Die kam denn auch und schon wurde der Vorfall wild diskutiert. Alfons, bar jeglicher Kenntnis der spanischen Sprache, sah sich von finster blickenden Menschen umringt, die ihn anblafften und offensichtlich irgendetwas von ihm wissen wollten. Völlig verständnislos gab er zu Protokoll: „I wui bloß de Oa und des Mehl, nacha geh’ i wieda!“ Was nur zu noch größeren Proteststürmen führte. Als die Polizisten dann mit Handschellen klimperten, fiel ihm in seiner Not eines der wenigen Wörter aus der spanischen Sprache ein, die er beherrschte: „Telefono!“ Nun, jeder, der verhaftet wird, hat einen Anruf frei, also rief Alfons meinen Vater, der ja nichts besseres zu tun hat, zu seiner Hilfe herbei. Mein Vater kam, reichlich unwillig, aber er kam, ließ sich die Sachlage erklären und fing an, für Alfons die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Alfons, der sah, daß er wohl weder Mehl noch Eier bekommen würde, wähnte seine Sache verloren und seine Verteidigung in den besten Händen, also nahm er seine Schüssel und fuhr wieder nach Hause, sehr zur Freude meines Vaters, der jetzt dastand und erklären mußte, was er nicht erklären konnte, den solche Handlungsweise liegt ihm fern. Also seufzte er tief, erklärte den Ordnungshütern, daß hier bestimmt ein Mißverständnis vorläge und daß Alfons diesen Flüssig-Ei-Skandal bestimmt nicht absichtlich ausgelöst habe. Die Herren glaubten ihm, waren von Stund’ an aber sehr, sehr vorsichtig im Umgang mit Alfons.

Er war übrigens nicht allein gekommen. Alfons, kurz vorm Rentenalter (er feierte seinen 65. Geburtstag hier), kam zusammen mit einer harmlos aussehenden jungen Dame, die wir für seine Tochter hielten. Mein Vater, der Unglücksrabe, meinte denn auch, als man einander vorgestellt wurde: „Ach, wie nett, Ihre Tochter ist auch mitgekommen!“ „Naa,“ gab Alfons zurück, „des is die Frau mit der i schlof!“ Womit er ausdrücken wollte, daß es sich um seine ihm angetraute Ehegattin handele. Sie wurde stocksteif und sprach in der ganzen Zeit, die sie hier war, kaum ein Wort mit uns. Lange war sie eh nicht hier, denn etwa drei Monate, nachdem Alfons und seine Resi (nennen wir sie mal so) hier eingetroffen waren, wurde Reserl von gräßlicher Sehnsucht nach ihren Eltern und ihrem Bruder ergriffen. Sie kaufte sich ein Drei-Monats-Ticket und reiste heim auf’s Land, wo sie einige Zeit mit ihren Eltern verbrachte. Als ihre Sehnsucht dann gestillt war, bereiste sie die nächstgrößere Stadt, räumte systematisch sämtliche Bankkonten und ward nimmermehr gesehen. Alfons traf das tief, dachte er doch, die Frau, mit der er schlief, schätze seine inneren Werte. Nun saß er hier, bargeldlos, mit einer abgelaufenen Amexco-Platin-Karte, konnte nicht zurück nach Deutschland und auch sein Meisterwerk (das Haus) nicht vollenden und war ein unglücklicher Mensch. Solange das hiesige Konto es hergab, erschien er abends an unserem Stammtisch und leerte sein Fläschchen Chateuneuf du Pape und erzählte uns von seinen sexuellen Großtaten, bis meine Mutter ihn das Nachtgebet des alternden Casanovas lehrte: „Herr, du hast mir das Können genommen, nun nimm mir bitte endlich auch das Wollen!“

Wie gut, daß just bevor er ganz dem Alkohol verfiel und er uns mit seinen Träumen den letzten Nerv raubte, eine gütige brasilianische Fee kam und ihn in die Weiten des Kontinents entführte. Wir hätten ihn wahrscheinlich nicht mehr lange ertragen können.

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