Familienbande

Unser Freund Will, der eigentlich mal Taxifahrer war, hat irgendwo ganz weit draußen eine Despensa (dt.: Vorratskammer; in Paraguay die Bezeichnung für einen Tante-Emma-Laden). In diesem Laden führt er so ziemlich alles vom Nudel-Fertiggericht bis hin zu Schrauben und Nägeln. Selbstverständlich gibt's da auch Getränke, und damit der Konsum derselben gefördert werde, stehen vor der Tür ein paar einladende Tische und Stühle. Dort sitzen oft und gern die Mitglieder der deutschsprachigen europäischen Gemeinde. Man kann in Ruhe sein Bier trinken und vor sich hin lästern.

Über Tine, zum Beispiel, die ganz alleine in einem Riesenhaus wohnt und von der kein Mensch weiß, wovon sie lebt, seit ihr Mann sich heimlich, still und leise davongemacht hat. Nachdem sie mit Männern nicht viel am Hut hat, wird gemutmaßt, sie sei lesbisch, und man spekuliert, mit welcher der Freundinnen, die sie öfter mal besuchen, sie's denn treibt. Und über Heiner, der das vorgenannte Gerücht in Umlauf gebracht hat, eben weil er hinter Tinchen her war und sie das freundliche Angebot ziemlich harsch zurückgewiesen hat. Seitdem hat Heiner sich auf willigere, dafür nicht umsonst zu habende Mädels verlegt und wenn er sich die Hose zurechtrückt, grinst die ganze Gemeinde, denn alle stellen sich vor, was er sich denn nun schon wieder eingefangen haben mag. Nunja, ein Junggeselle hat's nicht einfach. Einmal hat er eine Freundin mitgebracht, die hat's hier nicht leiden mögen und hat den ganzen Tag im klimatisierten Hotel gesessen, gelesen und gemault. Sagt Heiner. Nur abends wurde sie munter und wollte ausgeführt werden. Das ist natürlich etwas kompliziert in einer Stadt, in der sich die Zahl der akzeptablen Speiselokale auf ein einziges beschränkt, in dem dann natürlich immer dieselben Leute sitzen und sich ebenso das Maul zerreißen wie an Wills Stammtisch. Kneipen, Discos oder ähnliche Lokalitäten, in die diese junge Dame gepasst hätte, gibt es weit und breit nicht, also hat sie diesen Urlaub nicht genossen und der arme Heiner stand hinterher wieder alleine da.

Heiner kümmert sich hier zusammen mit seinem wesentlich jüngeren Bruder Wulf um die Liegenschaften seiner Eltern und kommt immer für ungefähr sechs bis acht Wochen her, für den Rest des Jahres hat er seine Anwaltspraxis in Deutschland. Wulf ist ständig hier, kassiert Miete bzw. Pacht und ärgert sich über die Agrarwirtschaft im Allgemeinen und die Arbeiter auf der Sojafarm, die er zu betreuen hat, im ganz besonderen. Außerdem ärgert er sich über seine Eltern, die offensichtlich so sehr der Ansicht verhaftet sind, dass er das soeben eingenommene Geld sofort wieder zum Fenster hinauswirft, dass sie ihm jedes Jahr Heiner auf den Hals schicken, der die Bücher prüfen soll. Schließlich ist er Anwalt, wogegen Wulf ein popliger Schreinermeister ist und keinen Schimmer von Büchern haben kann. Also hat Wulf das zweifelhafte Vergnügen, seinen Bruder so um die zwei Monate jährlich zu beherbergen, verköstigen und amüsieren und dabei darauf zu achten, dass Heiner das oben erwähnte mühevoll erworbene Geld seiner Eltern nicht zu eben jenem Fenster hinauswirft. Insgesamt eine offensichtlich herzige Familie, wie so sehr viele, die hier herumlaufen. Die Tatsache, dass der Vater dieser so hoffnungsvollen Sprösslinge öfter mal mitkommt und dann auch mit Heiner "auf Tour" geht, macht Wulf umso wütender, denn einerseits wirkt sich das meistens verheerend auf die Konten aus, andererseits muss er öfter mal seiner lieben Verwandtschaft aus dem Schlamassel helfen. Folglich kriegt er jedesmal einen mittleren Anfall, wenn sein Bruder sich zusammen mit dem Vater ansagt. Dieses ist gerade diesen Sommer mal wieder passiert, und Wulf hat diesen Urlaub der beiden wie üblich mit Müh' und Not überstanden, obwohl es sich diesmal gar nicht so schlecht anließ.

Wulf, entschlossen, dieses Jahr keinen Streit mit der Verwandtschaft zu bekommen, hat die beiden nur mäßig angesoffen aus dem Flugzeug gezogen, nach Hause gebracht und dort erstmal zur Erholung ins Bett gelegt. Nachdem sie die üblichen drei Tage zur Überwindung des Jet-lag im klimatisierten Haus verbracht hatten, bekam Wulf sie tatsächlich dazu, die Bücher durchzusehen; kein einfaches Unterfangen, wenn man bedenkt, dass Wulf ja arbeiten muss, damit alles läuft und somit meistens schon gegen sieben aus dem Haus geht, damit nicht gar so viel Soja aus den Lastern verschwindet, die zum Silo fahren und auch keine "landlosen Bauern" die Felder besetzen. Letzteres ist immer mit ziemlich hohen Kosten verbunden, denn diese sogenannten Bauern sind normalerweise Tagediebe aus allen Ecken des Landes und werden von der Agrargewerkschaft recht gut dafür bezahlt, dass sie notfalls ein paar Schläge einstecken, aber um Himmels willen nicht vom Platze weichen, bis der Besitzer der Felder die Agrargewerkschaft fürstlich dafür entlohnt, dass die Herrschaften sich endlich verziehen. Die Landlosen haben dann wieder ein bisschen Geld zum Versaufen, die Agrargewerkschaft die Mittel, andere solche auf ein anderes Stück Land zu schicken, um denselben Tanz mit einem anderen "Großgrundbesitzer" aufzuführen. Was übrigbleibt, wird gerecht unter den Leitern der "Aktion" geteilt; diejenigen Kleinbauern, die wirklich schuften und hart am Rande des Existenzminimums (paraguayische Definition, bitte!) entlangschrammen und natürlich wesentlich zahlreicher sind als die oben erwähnten, sehen von diesem Geld natürlich nie etwas, ebensowenig von Entwicklungshilfekrediten oder ähnlichen für das hiesige Establishment so segensreichen Spenden und Darlehen, über die die Geber nicht wachen.

Aber zurück zu unserem Freund Wulf, der nun endlich so weit war, dass er auch diesmal sowohl Vater als auch rechtsgelehrten Bruder von seiner persönlichen Ehrlichkeit und der Rechtmäßigkeit seiner Buchführung überzeugt hatte. Diesmal hatte es auch nur zehn kleine Tage gedauert, Tage die seine volle Aufmerksamkeit beanspruchten, ihn zwangen, so manche unfruchtbare Diskussion zu führen und seine Präsenz an seinem normalen Arbeitsplatz auf das absolute Minimum zu beschränken. Nachdem er also endlich den Segen der Verwandtschaft für sein Tun erhalten hatte, gedachte er, sich wieder mit vollem Elan seinem stark vernachlässigten Tagwerk zuzuwenden. Heiner und sein lieber Vater wollten noch einige schöne Ferienwochen verbringen, so stand dem glücklichen Zusammensein fast der ganzen Familie kaum noch etwas im Wege. Und tatsächlich: Heiner und sein Vater widmeten sich sportlicher Betätigung und der Besichtigung der in der Umgegend liegenden Sehenswürdigkeiten und kamen abends wohlgelaunt und nüchtern nach Hause zu einem deliziösen Mahl, hergestellt von Wulf, der nebenher ein begnadeter Koch ist, aber nie die rechte Lust aufbringt, nur für sich selbst zu kochen.

Aber die Zufriedenheit lässt uns ja nun oft genug unaufmerksam werden, und so kam's wie es kommen musste, denn man kann ja aus einem Tiger auf Dauer kein Schaf machen. Eines schönen Sonntagvormittags, Wulf war gerade mal wieder dabei, sich selbst zu übertreffen mit irgendetwas indischem, fehlte das Mineralwasser. Heiner erklärte sich sofort bereit, mal eben bei Will vorbeizufahren und welches zu holen, Papi, ebenso hilfsbereit, sagte er ginge mit und hülfe tragen. Wulf hätte ja Schlimmes ahnen sollen, zumal Heiner, neben der Tatsache, dass er Anwalt ist, mit seinen knapp zwei Metern und vom täglichen Besuch im Fitneßstudio gestählten Muskeln eigentlich keiner Hilfe bedürfte, wenn er einige Flaschen Mineralwasser zu tragen hat. Wulf, nicht ahnend, was er tat, mahnte nur, rechtzeitig zum Mittagessen wieder da zu sein, weil sonst das schöne Mahl verkochen könnte. Die beiden schwangen sich also in das Auto, das exklusiv für die Bewegungsfreiheit von Heiner während seiner Besuche zur Verfügung gehalten wird, und fuhren in Richtung Despensa. Dort saßen schon einige Kumpels beim Frühschoppen und luden auf ein Bierchen ein. Heiner und Papi, gebauchpinselt ob so großer Wiedersehensfreude, nahmen dankend an und baten Will, das Mineralwasser solange in den Kühlschrank zu stellen.

Nun dauert es ja bekanntlich seine Zeit, wenn man mit Freunden, die man lange nicht gesehen hat, Neuigkeiten austauscht und Spekulationen anstellt. Noch zeitraubender wird die Angelegenheit, wenn man dieses bei schönem Wetter, ungefähr 35ºC im Schatten und bei mehreren Halbliterfläschchen des guten Bieres tut. So kam es, dass die Sitzung unserer beiden Freunde doch geringfügig länger dauerte, als ursprünglich geplant. So gegen vier Uhr nachmittags sah man ein Auto vorfahren, darinnen Wulf und Tine, die kurz vor der Mittagszeit vorbeigeschneit, so in den Genuss des guten Indischen gekommen war und mit Wulf zusammen über mehreren Gläschen Weins zu der festen Überzeugung gelangt war, dass es eine himmelschreiende Unverschämtheit sei, jemanden, der sich beim Kochen Mühe gegeben hat, einfach mit dem gelungenen Ergebnis seiner Mühen sitzenzulassen. So stürzten die beiden also aus dem Auto wie zwei leibhaftige Racheengel, gingen energisch auf den Tisch zu, an dem Heiner und sein Herr Papa saßen und fingen an zu schimpfen wie die Rohrspatzen. Ob die beiden denn wohl von allen guten Geistern verlassen seien, Wulf habe sich solche Mühe mit dem Essen gegeben und sie setzten sich hier einfach hin und besöffen sich, so könne man doch nicht mit Menschen umgehen, an denen einem etwas liege! Dieses unverschämte Verhalten lege den Schluss nahe, dass die beiden Wulf sowieso nur als ihren Haussklaven ansähen, von dem sie erwarteten, dass er ihnen die Kohlen aus dem Feuer hole, wenn es nötig sei und der sich dafür abschufte, dass immer, wenn sie hier ankämen, genug Geld da sei, damit sie sich auf ihre Weise vergnügen könnten.

Starker Tobak, wahrlich, und wenn man bedenkt, dass das viele, gute Bier in der schönen, warmen Sonne auch seine Wirkung getan hatte, nicht verwunderlich, dass Wulfs Vater tief Luft holte und anfing, seinen jüngeren Sohn gar lästerlich zu beleidigen. Heiner, der aufgrund von Körpergröße und -gewicht insgesamt mehr verträgt und bestimmt den klareren Kopf von den beiden hatte, sagte nichts, warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu und zog seinen Vater am Arm in sein Auto. Er setzte ihn auf den Beifahrersitz, warf krachend die Tür zu, schwang sich selbst hinters Steuer und startete den Wagen. Nun war er aber so nüchtern leider doch nicht mehr, und statt dass der Wagen wie vorgesehen vorwärts auf die Strasse fuhr, schoss er rückwärts, wo das Gartentor von Will sehr im Weg stand. Das Gartentor war gottseidank breit und nur durch eine kleine Kette gesichert, die bei diesem Anprall natürlich riss. Das Tor sprang auf, der Wagen fuhr mit ungeminderter Geschwindigkeit hindurch, schräg rückwärts einen Abhang im Nachbargrundstück hinunter, entwurzelte einen im Wachstum befindlichen Schattenbaum und blieb erst stehen, als die Fahrertür, die Heiner in seiner Eile zu schließen vergessen hatte, mit einem explosionsartigen Knall von einer großen Palme weiter geöffnet wurde, als ihr gut tat. Dieser Knall weckte Heiners Überlebensinstinkte, also trat er heftig auf die Bremse und grub auf diese Weise die Reifen des Wagens zur Hälfte in den Matsch, denn hier war der Boden schön locker und es hatte tags zuvor noch heftig geregnet. Die Umsitzenden und -stehenden beobachteten diese Vorgänge mit weit geöffneten Mündern, unfähig, dem Lauf der Dinge Einhalt zu gebieten. Als der Wagen endlich stand, sprangen alle gleichzeitig auf und rannten zum Auto, um zu sehen ob die beiden sich vielleicht verletzt hatten. Es war gottseidank nichts weiter passiert. Das Auto allerdings war derart beschädigt, dass die Reparatur zwei Wochen in Anspruch nahm und somit Heiner und sein Vater sich zum Taxifahren verurteilt sahen.

Nachdem nun einmal der Haussegen schief hing und Wulf nur noch sehr sporadisch mit seiner Familie konferierte, machten Heiner und sein Vater noch ordentlich "einen los". Zunächst im Taxi, später dann, als der Wagen in Ordnung war, fuhren sie wieder selbst. Eines Nachmittags war Papachen allein zu Will gefahren, Heiner war noch damit beschäftigt, die Folgen der Sauftour vom vorhergehenden Abend zu überstehen. Will war so freundlich, gegen sechs Uhr abends anzurufen und Bescheid zu geben, dass es wohl noch ein wenig dauern würde, bis die beiden Herren ihren Vater wieder begrüßen könnten. Wulf, der das Telefon bediente, sagte nur jaja und machte Abendessen für zwei. Um halb neun rief Will noch einmal an, Bescheid gebend, dass es wohl nur noch ein halbes Stündchen dauern würde, bis Papa wiederkäme. Gegen halb zwölf beschloss der alte Herr, dass er nun wohl doch mal los müsse. "Aber, Will", so sprach er, "du muss ummedingt midfahn. Ich kanna die Schrasse gannich meha sehn!" Wohl war, der Gute hatte wieder mal ordentlich getankt, ganz abgesehen von der Tatsache, dass er nachtblind ist und nach Einbruch der Dunkelheit im nüchternen Zustand sowieso nicht mehr fährt. Will, der nicht minder blau war, meinte er könne ja "hinnaheafaahn, damit isch seh, wodu inn'n Graam fähs." So zuckelten die beiden mal eben los, auf der wirklich gut beleuchteten Hauptstrasse selbstverständlich, denn auf den finsteren Nebenstrecken hätten sie in ihrem Zustand gar keine Chance gehabt. Nun führt die Hauptstrasse an einer Polizeidienststelle vorbei, und dort kennt man Wills Vehikel sehr gut. Die Beamten, die matetrinkend vor der Tür saßen, sahen die beiden Autos schon von weitem auf der Strasse schlingern und so hielten sie den Wagen von Wulfs Vater denn auch an. "Alkoholkontrolle, bitte pusten Sie doch mal in dieses Röhrchen." Der Mann hatte das Röhrchen schon fast im Mund, da kam Will angestolpert, der kaum aus seinem Wagen hatte aussteigen können. "Hee," rief er den Beamten zu, "das könn' iha donnich machen, iha sehddoch, dassa Mann völlich besoffnis!" Die Polizisten sahen Will an, dann Wulfs Vater und schließlich einander. "Naja," meinte der eine, "da hast du eigentlich recht, Will. Kommt er denn so nach Hause?" "Klaa," sagte Will, "issübahauptkein Problem! Isch faah ja hinnahea." "Gut," sagte der andere, "dann fahrt mal. Aber pass' bloß auf, dass nichts passiert!" "Issjagut!" Nach diesem Zwischenspiel meinte der Vater, es sei vielleicht besser, wenn Will vorausführe, so dass er sich an dessen Rücklichtern orientieren könne. Gesagt, getan. Nach weiteren zwanzig Minuten (für eine Strecke von nicht ganz fünf Kilometern) kamen die beiden dann auch wohlbehalten vor Wulfs Haustür an. Der nahm seinen Vater ohne Kommentar in Empfang und ließ ihn auf die Wohnzimmercouch fallen. Die Treppe hinauf ins Bett wollte er den guten Mann nun doch nicht mehr tragen. - Tags darauf erschienen die beiden Polizisten bei Will und erkundigten sich, ob der Herr denn auch gut nach Hause gekommen sei. Es geht doch nichts über die Fürsorge der Gesetzeshüter!

Kurz vor ihrer Abreise hat Heiner dann das Auto noch auf einen Bordstein aufgesetzt; dabei ist ihm ein Reifen kaputtgegangen (das Wie ist bis heute im Dunkeln geblieben). Also hat Heinerle, nicht faul, den Wagenheber herausgeholt und das Auto aufgebockt. Das dumme war nur, dass die Beleuchtung so schlecht war (direkt unter der Strassenlampe) und er irgendwie nicht gesehen hat, dass er den Wagenheber unter dem Tank angesetzt hatte. Das wurde ihm erst bewusst, als das Benzin die Strasse hinunterlief. Da ist er dann eben die zwei Kilometer zu Fuß gelaufen, die ihm noch nach Hause fehlten. Als er ankam, saß Wulf noch vor dem Fernseher. "Wo kommst du denn schon her? Und wieso riechst du nach Benzin?? Ist was mit dem Wagen?," meinte der. Die Antwort war kurz und trocken: "Tank kaputt." - "Waaaaas? Wo ist die Karre?" "Da hinten." Damit zeigte Heiner vage in die Richtung und begab sich in sein Bett. Wulf hätte das Flugzeug küssen können, mit dem die beiden heimwärts flogen. Wer will's ihm verdenken?