19.10.2008

Kultur? Kultur!

Der deutsche Fernsehpreis 2008 wurde verliehen und es gab Aufregung um einen Literaten, der sich mit den Fernsehmachern von heute nicht in einer Reihe sieht und eine Gleichgesinnte, die ihrer Wut nicht Herr werden konnte. Da komme ich als Durchschnittsmensch ins Grübeln und lade meine Leser hiermit herzlich ein, an den Gedanken, die ich dazu denke, teil zu haben.

In der deutschen Wikipedia steht zum Begriff "Kultur" folgendes zu lesen:

"Kultur (von lat. cultura) ist im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur."

So ist das, was ich hier schreibe ein Stückchen Kultur, die Pflanzen, die ich in meinen Blumenkästen auf dem Balkon pflege, sind ein weiteres Stückchen Kultur, jeder Keks, den ich aus dem ausgerollten Teig steche, ja sogar der Teig selbst - Kultur. Niemand sagt, dass das, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, schön sein muss. Oder dass es den Geist des Menschen fordern muss. Manchmal gestalten wir einfach nur, damit andere Menschen laut lachen können. Nicht jedes Wort, das ich sage, muss zwingend zum Nach- oder Weiterdenken anregen. Nicht alles, was zum Nach- oder Weiterdenken anregen soll, ist auch verständlich genug. Ich erinnere hier nur an Joseph Beuys' Fettecke, die zwar sicherlich ein auf intensiven theoretischen Überlegungen basierendes Kunstwerk darstellte, deren Sinn sich dem durchschnittlichen Menschen allerdings so sehr entzog, dass sie einer Reinigungskraft simpler Schmutz sein musste[1].

Ähnlich geht es vielen Menschen mit den schöpferischen Höhenflügen mancher Autoren und auch Regisseure. Ich selbst beispielsweise hätte "Das Parfum" des Autors Patrick Süskind vermutlich nach der Lektüre der ersten paar Seiten seinem Schicksal überantwortet und mich erbrochen, wenn ich dieses Buch nicht in spanischer Sprache gelesen hätte, was dieses Werk zumindest vom sprachwissenschaftlichen Aspekt her interessant und somit die Geschichte, die da erzählt wird, einigermaßen erträglich gemacht hätte. Andere Menschen sind der Ansicht, dass sowohl Beuys' gesammelte Werke als auch auf Papier ausgelebte Perversion á la mode de Süskind faszinieren, die menschliche Psyche schonungslos freilegen, zum Nachdenken anregen und der Himmel möge wissen, was sonst noch. Es freut mich (sowohl für die Schöpfer dieser Werke als auch für deren Bewunderer), dass es Menschen gibt, die mit derartigen Schöpfungen etwas anzufangen wissen, ja sogar noch geistige Anregung und insofern auch persönliche Weiterentwicklung daraus ziehen. Bedauerlicherweise ist der Prozentsatz der Menschen, die man mit dergleichen konfrontieren kann, ohne dass sie sich veralbert fühlen, relativ gering.

Das liegt vermutlich daran, dass das Gros der deutschsprachigen Menschheit morgens so gegen sechs aufsteht, ungefähr um acht Uhr am Arbeitsplatz aufschlägt, dort nicht viel Zeit hat, sich die Theorien beispielsweise eines Joseph Beuys durch den Kopf gehen zu lassen und dann so gegen fünf Uhr nachmittags reichlich gestresst den Arbeitsplatz verlässt, um heimwärts zu streben. Dort angekommen, haben die meisten noch das eine oder andere zu erledigen, zweimal die Woche einer sportlichen Betätigung nachzugehen, auf dass die Wirbelsäule lange gerade bleibe und der Ärger auf den Vorgesetzten, die Ehefrau, die Kinder oder die Welt im Allgemeinen möglichst so abventiliert werde, dass kein irreparabler Schaden entsteht und dann ist mensch müde. Am Wochenende gilt es all das zu erledigen, wofür unter der Woche keine Zeit bleibt und so bleibt für hehre kulturelle Genüsse meist leider nur der Sonntag - und wer hat schon Lust, am einzigen wirklich freien Tag der Woche dann auch noch wirklich abgehobene Gedanken von Leuten, die mehr Zeit haben, als ihnen gut tut, nach-, mit- und weiterzudenken?

Die Reaktion des Massenmediums Fernsehen ist eine recht einfache: Es bietet leichte, seichte Unterhaltung, die dem Mitglied der arbeitenden Bevölkerung die erleichternde Erkenntnis vermittelt, dass Reichtum und Berühmtheit nicht vor Kummer, Herzeleid oder persönlichem Elend schützen, dass auch andere Leute nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen und dass es andere Leute gibt, die noch viel übler dran sind als sie selbst und dazu noch deutlich weniger begabt.[2]

Denn das ist es, was der Alltagsmensch, der das Getriebe, das den wirtschaftlichen Motor unserer Gesellschaft am Laufen hält, braucht: Die sichere Gewissheit, nicht allein zu sein mit Geldsorgen, Ehestreitigkeiten, Schulstress und Mangel an herausragendem Talent. Sicher tut es auch gut, zwischendurch mal eine Geschichte mit Substanz erzählt zu bekommen, die den Geist beschäftigt und zum Weiterdenken anregt, sozusagen Nouvelle Cuisine für den Kopf. Für die tägliche geistige Ernährung sind aber die wenigsten Menschen in der Lage, mehr aufzunehmen als den meist überwürzten Einheitsbrei, den man eben überall bekommen kann.

Und genauso wie ein Meister der Nouvelle Cuisine die offizielle Anerkennung in Form von Sternen und Erwähnung im Guide Michelin nötig hat, die sein Restaurant zu einem Tempel des Genießens macht, braucht der Imbisskoch, der nach dem Geheimnis der knusprigsten Pommes, der schmackhaftesten Currywurst und des sättigendsten Erbseneintopfs sucht, eine Anerkennung, die ihm zeigt, dass er ein guter Imbisskoch ist. Deshalb gibt es für Menschen, die daran arbeiten, dass der Fernsehzuschauer möglichst vielfältige Unterhaltungskost vorgesetzt bekommt, den deutschen Fernsehpreis, der ja unlängst an viele Menschen, die sehr unterschiedliche Dinge tun, verliehen wurde. Und da kam es ja bekanntermaßen zum "Eklat".

Um ehrlich zu sein: Es mutet ja ein bisschen merkwürdig an, wenn ein Gourmetkoch (um beim Bild zu bleiben) wie Marcel Reich-Ranicki von den Geschäftsführern der größten deutschen Schnellimbissketten einen Preis für sein Lebenswerk erhält und es wundert mich nicht, wenn er nach mehrstündigem Konsum unterschiedlich gewürzter Hamburger, Currywürste und Pommes zu dem Schluss gelangt, dass er hier fehl am Platze sei und er nicht weiß, was er mit einer Ehrung für sein Lebenswerk von diesen Menschen anfangen soll. Ich kann ihn da schon verstehen, denn er hat lange Zeit gehabt, seinen Geschmackssinn in seinem Sinne zu verfeinern, ihm wurde ob seiner Expertise zugejubelt, er ist jemand, dem mehr Gewürze zur Verfügung stehen als Salz, Pfeffer, Curry und Natriumglutamat. Und ich finde, dass er seinen Preis auf eine durchaus freundliche Weise zurückgewiesen hat. Natürlich hat er den Ärger darüber, dass ihm vorgesetzt wurde, was er wirklich nur als Fraß betrachten konnte, nicht verborgen. Aber er ist nicht persönlich geworden und er hat die Hand, die Thomas Gottschalk ihm hingestreckt hat, genommen und freundschaftlich geschüttelt.

Sehen Sie, ich mag Herrn Reich-Ranicki eigentlich nicht. So oft ich von ihm geschriebenes gelesen und von ihm gesagtes gehört habe, hatte ich den Eindruck, dass hier jemand sei, der mir sagt, wie ich kulturell zu essen habe, was mir zu schmecken habe und was ich abzulehnen habe. Ich kann Köche nun mal nicht leiden, die ihre persönliche Würzmethode für die einzig wahre halten, jeden Koch, der anders würzt, einen schlechten Koch nennen und jeden Konsumenten, dem die anders gewürzten Gerichte schmecken, einen Banausen heißen. Das ist aber etwas anderes.

Die Ablehnung des Fernsehpreises kam nicht wirklich überraschend, was mich angenehm überrascht hat war - angesichts der Art, in der Herr Reich-Ranicki üblicherweise verteufelt, was ihm nicht gefällt - die Freundlichkeit in Ton und Gestik, in der sie ausgesprochen wurde. Sollte dieser alte Mann, der sein Missfallen auf so ätzende, gallige, verletzende Weise zu äußern weiß, in seinem wirklich hohen Alter noch der Milde seinen Mitmenschen gegenüber fähig werden? Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Enttäuscht hat mich hier Elke Heidenreich. Diese kluge Frau, die ich bisher wegen ihrer Toleranz, Geduld und lächelnden Zuneigung zu den kleineren und größeren Defiziten ihrer Mitmenschen so sehr gemocht habe, ausgerechnet diese mit Humor und Freundlichkeit begabte Frau besucht diese Veranstaltung, setzt sich offensichtlich noch des nächtens nach ihrer Rückkehr hin und schreibt einen Artikel für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den sie besser vor dem Einreichen noch zweimal überarbeitet hätte. Aber wirklich.

Ach, Frau Heidenreich, warum haben Sie Else ermordet? Wie schön hatte die auf ihre schnoddrige Art in den Wunden dieser Veranstaltung polken können, ohne dass sie verbittert gewirkt hätte. Warum sind Sie so verbittert? Mir fehlt jedes Verständnis - nicht für den Inhalt Ihres Artikels, aber für die Form. Man muss wirklich nicht jeden Ärger, der einen packt, ungebremst und unreflektiert in die Öffentlichkeit schäumen lassen. Kritik, die man übt, muss dem Kritisierten Raum lassen, innerhalb dessen er mit dieser Kritik umgehen kann. Sie darf nicht beleidigen, wenn man wirklich Zustände, die einen empören und verärgern, verändern möchte. War es wirklich nötig, in dieser Art nachzutreten? Nein, das war es nicht, finde ich und ich finde auch, es war Ihrer nicht würdig.

Konzept und Dekoration sind grundsätzlich Geschmackssache und über Geschmack lässt sich bekanntermaßen nicht streiten. Der Moderator ist ebenfalls Geschmackssache und gerade Thomas Gottschalk ist einer, den man lieben oder lassen muss. Ich selbst mag den Mann, auch wenn er ein begnadeter Fettnäpfchenspringer ist. Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, dass er durchaus über ein gerüttelt Maß an Charme verfügt und die Art und Weise, in der er versucht hat, die Situation zu retten, hat ja offensichtlich nicht nur mir, sondern auch Herrn Reich-Ranicki gefallen (ich denke nämlich nicht, dass dieser Mann leichtfertig mit dem "Du" umgeht, schon gar nicht in der Öffentlichkeit). Nun, Sie mögen ihn nicht und das verlangt auch niemand. Aber gerade wenn man jemanden nicht mag, sollte man sehr aufpassen, was man über den Betreffenden sagt und das, was Sie in Ihrem Artikel schreiben liest sich nicht sehr vorteilhaft - für Sie.

Auch wenn ich mir die Aufzeichnung des Fernsehpreises nicht angesehen habe, habe ich dank youtube die Möglichkeit gehabt, die Ablehnungsrede von Herrn Reich-Ranicki und die weiteren Ereignisse bis zu seinem Abgang von der Bühne mehrfach zu betrachten. Die Zeit hätten Sie sich ruhig auch nehmen sollen, denn dann wäre Ihnen einiges aufgefallen, was Ihnen auf Ihrem lauschigen Plätzchen in der letzten Reihe entgangen zu sein scheint: Ich habe einen alten Herrn gesehen, der freundlich aber bestimmt "Nein, danke" gesagt hat und, weil er ein Gefühl für Menschen zu haben scheint, erklärt hat, warum er diesen Preis nicht will. Ich habe einen jungen Mann gesehen, der gesehen hat, was den alten Mann stört und der ihm den Raum verschafft hat, über diese störenden Elemente zu sprechen - und zwar in einem Rahmen, der seiner würdig ist. Da hätte der Gottschalk ganz anders gekonnt, glauben Sie mir das und ich habe den Kerl schon anderen Respektspersonen aufs gröblichste über den Mund fahren sehen, damit die Show nicht gefährdet wird. Vielleicht wurde Ihre Erinnerung ja getrübt durch den Wunsch, irgendjemand, möglichst Herr Reich-Ranicki, der ja eine wirkliche Autorität ist, möge dieser ganzen Veranstaltung eine eisige Absage erteilen. Sie haben das in Ihrem Artikel Herrn Reich-Ranicki nachgesagt. Davon wird es aber nicht wahrer. Auch haben Sie - vermutlich aufgrund ihres Mangels an Sympathie - offensichtlich Herrn Gottschalk nicht richtig zugehört, aber das nur am Rande. Das sind Defizite an Ihrem Artikel, die den Schluss zulassen, dass da eine, die sauer ist, ihren Ärger losgelassen hat, ohne nachzudenken. Schade!

Wie ich oben schon erwähnte, besteht die deutsche Fernsehunterhaltung in der Hauptsache aus beruhigenden Seichtigkeiten, die dem Durchschnittsmenschen mitteilen, dass sein Leben doch nicht so schlecht sei wie es vielleicht den Anschein haben möge. Es gibt manches, das mich persönlich auch aufregt - beispielsweise sehe ich mir nachmittags beim Wäschezusammenlegen ganz gerne mal das an, was in meiner Familie gern mit "Mütterschrott" bezeichnet wird: Angelika Kalwass' psychologische Großtaten, Barbara Saleschens Gerichtsverhandlungen, die Ermittlungen, die Niedrig und Kuhnt leiten, die Zoogeschichten und Küchenschlachten. Und es stört mich, wenn ich da mindestens dreimal pro Woche plötzlich und unerwartet im Bordell stehe, wenn ich durch die verbale Fäkalgrube der Menschheit gezogen werde, wenn gebildete Menschen, die nun wirklich eine Universität besucht haben, laute verbale Attacken fahren, weil ihnen die Argumente ausgehen (irgendwann muss ich mal im örtlichen Gericht einer Verhandlung beiwohnen um festzustellen, ob sowas wirklich Usus ist, eigentlich kann das ja nicht sein).

Ungeachtet all dieser Unbill ist es möglich, in der deutschen Fernsehimbissstube hier und dort mal etwas leckeres zu finden, wenn man nur will. Es muss ja nicht gleich Schiller, Goethe oder Shakespeare sein - ich gebe mich ja gern auch mal mit einer gut gemachten Dokumentation zufrieden. Auch das sollte man meiner Meinung nach anerkennen. Letztlich ist es mit dem Fernsehen wie mit dem richtigen Leben: Es gibt eine ordentliche Portion Minderwertiges, überwiegend Durchschnittliches und ab und zu ein wirkliches Glanzlicht. Wer fernsehen möchte, sollte sich daran machen, die Glanzlichter zu genießen, den Durchschnitt zu ertragen und das Minderwertige zu ignorieren. Meiner Ansicht nach sollte man Sendungen, die man für minderwertig hält, besser nicht erwähnen und sich auch möglichst an keiner Diskussion darüber beteiligen. Da ist die Energie, die dafür aufgewendet wird, besser genutzt, wenn man wirklich Gutes weiterempfiehlt.

Lassen wir also den deutschen Fernsehpreis still und heimlich in der Versenkung unseres Stillschweigens verschwinden und unterhalten wir uns über das, was uns wichtig ist, liebe Frau Heidenreich. Es gibt so viel Gutes, das zuwenig Lob erhält, dass wir uns die Kritik am Schlechten getrost sparen können.

[1]Ich möchte hier noch auf die Güte der Reinigungskraft hinweisen, denn ich habe schon lange keine Putzfrau mehr gesehen, die Schmutz wahrgenommen hat, der sich mehr als zwanzig Zentimeter über ihrem Blickfeld befand.

[2]Weitere schöne Beispiele für diese Unterhaltungskategorie:

Die Liste ist beliebig fortsetzbar.