18.09.2001

Warum, wieso, weshalb?

Vor genau einer Woche haben Menschen, deren Gesichter wir nicht kennen, in den Vereinigen Staaten von Amerika vier Flugzeuge entführt und sie als Waffe benutzt, um tausende von Menschen zu töten, die nichts anderes taten, als ihrer Arbeit nachzugehen. Dieses Ereignis hat die Welt erschüttert und die Frage nach dem Warum wird immer lauter.

Warum müssen erst tausende von Menschen sterben, Verletzungen erleiden, Angst durchstehen, bevor die Welt im Großen und im Kleinen die Augen aufmacht und Mißstände wahrnimmt, die sie seit Jahren, teilweise schon seit Jahrzehnten tagtäglich in Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen sieht? Die Diskussionen, die ich verfolge, drehen sich samt und sonders um zwei Fragen: Wer kann so eine unbeschreibliche Gewalttat planen und durchführen? Was wird jetzt geschehen?

Die Beantwortung der zweiten Frage ist vermutlich von der der Antwort auf die erste abhängig, denn erst, wenn wir wissen, wer diese Attentate verübt hat, kennen wir den Grund; und erst dann kann wirklich gehandelt werden. Furchtbar ist der Gedanke, daß der Urheber - und damit seine Gründe - erst dann sichtbar werden könnte, wenn gehandelt wird. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Und alle haben Angst. Angst vor der Religion der "islamischen Fundamentalisten", die wir nicht kennen. Wer weiß denn, ob das, wovon es heißt, es stünde im Koran, auch wirklich drinsteht? Und wer weiß, wieviele mehr oder weniger absichtliche übersetzungs- und Interpretationsfehler gemacht wurden? Wer kann schon sagen, ob diese "Fundamentalisten" wirklich der Welt ihre Religion aufzwingen wollen oder ob sie nur dieselben skrupellosen Machtgeier sind, die die christlichen "Weltretter" zu Zeiten der Kreuzzüge auch waren - nur in geringfügig anderen Gewändern? Ich werde mißtrauisch, wenn einer hergeht und sagt, er wolle die Religion seines Volkes verteidigen. Mich packt der Fluchtinstinkt, wenn Menschen gegen Menschen gehetzt werden, weil sie an unterschiedliche Götter glauben. Mir fehlt einfach der Glaube an diejenigen, die einen solchen Glauben propagieren. Wer solches tut, tut das normalerweise für die Erlangung oder Erhaltung von Macht über andere Menschen, die Predigt ist hier nur ein Instrument, der Glaube ist das Wasser, auf dem ihr goldenes Schiff fährt. Was, außer dem Glauben an ein Paradies für Märtyrer, haben diese Glaubenskrieger denn anzubieten? An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Angst habe ich auch vor "meinen eigenen Leuten", die ich leider nur zu gut zu kennen meine. Da läßt sich ein britischer Premierminister schon mal ein Rindersteak publikumswirksam servieren und ein deutscher Landwirtschaftsminister gönnt sich ein Löffelchen voll verstrahlter Molke. Zur Beruhigung des Plebs und zum Lobe der Wirtschaft. Es werden Abgase in die Luft geblasen, die uns langsam zum Ersticken bringen. Wir schreiten über Parkett, für das lebenswichtige Waldgebiete zerstört wurden und trinken Mineralwasser, weil das Leitungswasser nicht "zum Verzehr geeignet" ist. Wir ertragen Allergien für die glänzendsten äpfel und Hautkrebs, damit der Kühlschrank nicht sondervermüllt werden muß. Und schauen uns unsere schöne, bunte, heile Welt auf Hochglanzmagazinseiten an. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Wir merken nicht, wie wir manipuliert werden, wie wir dahin getrimmt werden, erstmal dagegen zu sein, was auch immer es sei, anstatt uns für unser aller Wohl einzusetzen; wie wir dazu erzogen werden, zu sehen, was wir sehen sollen anstatt wahrzunehmen, was tatsächlich los ist. Good news is no news. Only bad news is good news. Very bad news is the best of all news. Sowas verkauft sich. Das wollen die Leute sehen, das bringt Einschaltquoten. Die Leute sind wir, und wir sind es auch, die diese Einschaltquoten erzeugen. Warum, eigentlich, bringt ein saftiger Action-Thriller mit möglichst viel Geknalle weit höhere Einschaltquoten als eine Dokumentation über die gemeine Waldameise? Ach, Bildung ist so langweilig, nicht wahr? An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Wir bewegen uns auf eingefahrenen Schienen, wehren uns gegen die öko-Steuer, weil sonst ja keiner mehr das Benzin bezahlen kann, das unsere Mobilität ausmacht und ignorieren völlig, daß es schon heute möglich wäre, nicht mehr Benzin zu tanken, für das das teuere und auch nicht nachwachsende Erdöl in Motoren mit einem Wirkungsgrad, der jedem verantwortungsbewußten Ingenieur die Tränen in die Augen treibt, verpulvert werden muß. Wir lassen uns weismachen, es ginge nicht anders und nehmen den Pseudokrupp und die Asthmaanfälle unserer Kinder achselzuckend hin. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Wir sehen tagtäglich, wie diskutiert wird, inwieweit genetische Forschung an Embryonen erlaubt werden soll, damit Wohlstandskranke sich ihre Medizin aus dem züchten lassen können, was vielleicht ihre eigenen Kinder hätten werden können. Wir sehen zu, wie Tiere kläglich verenden, weil sie vom Lebewesen zum Industrieprodukt degradiert werden, damit wir Wohlstandsmenschen noch mehr Milch trinken, noch mehr Fleisch essen und noch mehr Lederklamotten anziehen können. Und damit das alles erschwinglich bleibt. Fleisch ist ein Stück Lebenskraft, die Milch macht's, Leder ist cool, solange der Rubel rollt und jeder alles kaufen kann. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Wir stehen stumm vor Entsetzen daneben, wenn ein junger Amerikaner in irgendeinem obskuren Land in Asien wegen Drogenhandels an den Galgen kommt, obwohl die Regierung seines Heimatlandes heftig protestiert. Wir müssen hilflos mit ansehen, wenn in den Vereinigten Staaten von Amerika ein junger Mann eingeschläfert wird wie ein überzähliges Haustier, weil eine Jury aus mündigen Bürgern zu dem Schluß gekommen ist, daß der Mord, den er im Drogenrausch begangen hat, unentschuldbar und unverzeihlich ist und ein Richter meint, daß dieser Mann das Recht auf sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit deshalb verwirkt hat. Der, der dem jungen Mann die Drogen verkauft hat, lebt weiter. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen...

Ich fürchte, daß jeder auch nur halbwegs gebildete Einwohner Afghanistans, Pakistas, des Iran, des Irak und jedes anderen Landes, das den Islam zur Staatsreligion hat, ähnliche Aufsätze über "seine Leute" schreiben könnte. Erschütternd ist, daß jeder Mensch auf der Welt per Farbfernsehen, Radio, Internet, Zeitung, Zeitschrift oder Flugblatt genau die Wahrheit mundgerecht serviert bekommt, die gerade denjenigen genehm ist, die diesen Menschen zur Zeit regieren; daß wir alle uns zu bloßen Arbeitsameisen degradieren lassen, die kaum die Zeit haben, diese Wahrheiten zu hinterfragen; daß alle Menschen offensichtlich dazu neigen, einer vorgefaßten Meinung anzuhängen, auch wenn in ihnen der Verdacht aufkeimt, daß das so nicht richtig sein kann; daß Leute mit der Drohung, ihre "Lebensqualität" werde eingeschränkt, beeinflußt werden, zu tun, was von oben angeordnet wird. Erschreckend ist, daß ich diese Zeilen schreiben kann, ohne befürchten zu müssen, dafür gestraft zu werden - und mich deswegen für frei halten darf, zu tun, was ich möchte. Welch ein Trugschluß!