28.04.2002

Hallo Klaus,

We're the middle children of history, with no special purpose or place. We don't have a great war in our generation, or a great depression. The great depression is our lives. The great war is a spirtual war. We were raised by television to believe that someday we'll all be millionaires and movie gods and rock stars - but we won't. And we're slowly learning that fact.

And we're very, very pissed-off.

(Aus: Fight Club, 20th Century Fox, 1999)

Das ist ein Text, der mir in den Sinn kam, als ich begriffen hatte, was in Erfurt am 26.04.2002 passiert war. Der Amoklauf des Schülers in Erfurt ist ein Symptom für eine kranke Gesellschaft. Er zeigt, dass vieles, sehr vieles in unserem Zusammenleben nicht stimmt. Wo hat das angefangen? Woher kommt das?

Manchmal habe ich das Gefühl, die grauen Herren, von denen Michael Ende in "Momo" erzählt, sind unter uns - und es gibt keine Momo, die uns rettet. Wir haben keine Zeit mehr. Die Familien bestehen nur noch aus einzelnen Individuen, die sich schon lange nicht mehr richtig kennen. Morgens gehen Eltern und Kinder aus dem Haus, die Eltern zur Arbeit, die Kinder zur Schule. Kinder, die Glück haben, haben einen Elternteil oder Grosseltern, die mittags zuhause sind und ihnen das Essen machen. Aber wieviele Kinder haben dieses Glück noch? Oft genug ist es doch so, dass Menschen, die ihr Elternhaus verlassen, ihrer Wege gehen, ohne zurückzuschauen - das liegt manchmal an Missverhältnissen, viel öfter daran, dass viele Menschen eben nicht an ihrem Heimatort bleiben, um zu studieren oder einen Beruf zu lernen und später zu arbeiten; da leben dann die Grosseltern ihr eigenes Leben und können nur hoffen, genug Geld zu haben, um ein gutes Heim bezahlen zu können, falls sie gebrechlich oder gar pflegebedürftig werden. Die "Keimzelle" Familie, die der Staat in so schönen Worten im Grundgesetz zu schützen sucht, existiert sehr oft nur noch nach aussen hin. Kinder bleiben sich selbst überlassen - und dem Fernseher, dem Computer, der PlayStation. Wie oft habe ich schon Mütter gefragt, ob sie eigentlich wissen, womit ihre Kinder den ganzen Tag spielen. Da kommen dann Antworten wie: "Ach, ich verstehe nicht viel von Technik. Es ist doch gut, wenn die Kinder so früh lernen, mit solchen Sachen umzugehen." Und so spielen Kinder jeden Alters alle möglichen und unmöglichen Spiele, in denen es nur darum geht, einen Gegner kleinzukriegen. Das geht mit Pokémon und Digimon los, über StreetFighter bis hin zu wirklich brutalen Spielen, bei denen reichlich Blut fliesst.

Nun wirst du mir entgegenhalten, dass das doch nicht der Grund sein kann, aus dem ein junger Mann 13 Lehrer, zwei Schüler und einen Polizisten erschiesst. - Nein, das will ich auch gar nicht sagen. Aber diese Spiele, die wir als "Kindermädchen" missbrauchen, weil die Kinder dann Ruhe geben und sich allein beschäftigen anstatt ständig uns Erwachsenen vor den Füssen zu stehen, trainieren den Kindern eine ganz bestimmte Verhaltensweise an: Hau' drauf - wenn du stärker bist, bist du der Grösste. Wenn da kein Erwachsener ist, der ihnen hilft, das in den Spielen erlebte zu relativieren, sinkt dieser Leitgedanke in ihr Unterbewusstsein - und hält sich dort. Das wird noch verstärkt von Zeichentrickserien wie Dragonball Z und ähnlichem. Das allein reicht sicher nicht, um selbst aus einem sonst normalen, durchschnittlichen jungen Mann, der gewalttätige Filme und Computerspiele konsumiert, einen ausgerasteten Ninja-Fighter zu machen, der seine ehemaligen Lehrer exekutiert. Aber es legt einen Keim.

Ein weiterer Keim ist die Einsamkeit. Jeder Mensch ist mit sich und seinen Gedanken allein, solange er diese Gedanken nicht mitteilen kann. Aber wann haben wir denn Zeit, unsere Gedanken mitzuteilen? Die Spirale der Spassgesellschaft dreht sich immer schneller - morgens aufstehen, zur Arbeit, zur Schule, kaum Zeit für das Mittagessen, dann sofort wieder arbeiten, Hausaufgaben machen, danach... Unterhaltung. Wir haben 24 Stunden am Tag Fernsehprogramm und lassen das unreflektiert und ohne Unterbrechung auf uns herabrieseln. Frühstücksfernsehen, Hausfrauenprogramm, Diskussionsrunden, Kinderserien, Vorabendprogramm, Nachrichten, Quizshows, Features, Dokumentationen, Hollywood- und Babelsberg-Produktionen - alles das prasselt auf uns ein. Wann bremsen wir diesen Strom? Wie oft wachen wir aus diesem Rausch auf und nehmen unsere Umgebung wahr? Wie oft hast Du in den letzten zwei Wochen zu Deinem Kind, Deiner Frau, Deinen Eltern gesagt: "Lass mich, ich will das jetzt sehen. Wir reden später darüber, ja?" Wer wird sich da nicht einsam fühlen, wenn er feststellen muss, dass das, was er zu sagen hat, in der Wertigkeit weit unter dem steht, was ein Kasten mit etwas Elektronik drin zu sagen hat?

Noch ein Keim ist der Druck, die Eile, die rasende Geschwindigkeit, mit der wir vorwärtsgepeitscht werden. Schnell vorangehen soll es. Schon die Lehrpläne in der Schule sind dermassen überfrachtet, dass den Lehrern gar keine Zeit bleibt, Schülern, die zurückgeblieben sind, zu helfen. Sorgfältig und schnell arbeiten sollen wir, wo auch immer wir sind. Eine Grippe ist kein Grund, zuhause zu bleiben. Krankheit gibt es nicht - und wenn doch, ist die Strafe nicht fern. Die vorgeschriebenen Zeiten für Atempausen sind kurz. Nur schnell weiter, nur nicht anhalten, los, los, mach' doch, sonst schaffst du's nicht! Dabei wird immer Erfolg erwartet, schon von kleinen Kindern, von grösseren noch mehr - und Erwachsene haben zu funktionieren. Wehe dem, der versagt! Er wird unweigerlich tief und hart fallen. Wehe dem Träumer, der nach Sternen greift, die nicht "Erfolg" und "Status" heissen! Er wird aus der Gesellschaft ausgestossen werden und entweder ein Leben als Unikum oder in der Nervenklinik verbringen. Erfolg ist alles! Vorwärtskommen ist wichtig! Und der Wind, der uns entgegenbläst wird immer schärfer und immer kälter. Wir haben kaum Zeit, "guten Tag" zu sagen - das ist auch unmodern. Wir erwarten auf die Frage "Wie geht's?" keine Antwort - und wenn etwas anderes kommt als "Gut", dann ist es uns lästig.

Dabei übersehen wir, dass wir den jungen Leuten, denen wir den Fortschritt predigen, ein schlimmes Bild von diesem Fortschritt zeichnen. Wir sehen untätig zu, wie unsere Umwelt verpestet und vergiftet wird - damit noch mehr Statussymbole erworben werden können, der Konsum gefördert wird. Anzeigen und Werbefilme zeigen uns, wie glücklich wir sein werden, wenn wir dieses und jenes haben, Bedarf wird "geweckt", wo keiner da ist. Und wir fallen darauf herein - tagtäglich kaufen Menschen sich ein bisschen Liebe von ihren Kindern mit dem Waschmittel oder dem Weichspüler, ein bisschen Bewunderung mit dem Deodorant, ein bisschen Komfort mit der Sitzgruppe, ein bisschen Luxus mit dem teueren, aber schlecht geschnittenen Markenkostüm und ein bisschen Exotik mit der Fernreise vom Last-Minute-Schalter. Und wohin geht die Reise des Fortschritts? Wohin schreiten wir fort? Doch weg von uns selbst. Langsam, aber sicher verlieren wir uns selbst, unsere Eigenheiten unsere Vorlieben. Wir sind an den Einheitsgeschmack von Fast Food und Schnellgerichten gewöhnt, wir arbeiten an unserer Einheitsfigur, damit wir auch in die Klamotten passen, die wir im Kaufhaus oder in der exclusiven Boutique von der Stange kaufen und bilden uns ein, glücklich zu sein. Und schliesslich enden wir bei der Frage: "Welches Geschirr-Set definiert mich als Person?" (noch ein Zitat aus Fight Club). Fortschritt bedeutet, besser zu sein als die anderen, um mehr zu haben, schöneres zu haben, in den tolleren Läden einkaufen zu können in den chicen Restaurants sündhaft teuere Menüs zu verspeisen, die auch nicht besser schmecken als das tiefgefrorene Bistro-Menü, das wir uns sonst gegönnt haben.

Wir sind einzeln verpackt und geistig homogenisiert. Moralische Werte, menschliche Wärme, Liebe... Wo sind die denn hingeraten? Die täglich frischen Katastrophenmeldungen aus aller Welt haben uns gelehrt, wegzusehen. Der Schmerz des Übergangenwerdens hat uns gelehrt andere zu übergehen. Die Angst vor Verantwortung hat uns gelehrt, uns einzuigeln und zu verkriechen - oder wegzulaufen, sobald uns jemand zu nahe kommt. Verantwortung übernehmen wir für Dinge, nicht für Menschen. Menschen sind für sich selbst verantwortlich. Sie sind diejenigen, die, jeder für sich, entscheiden sollen und entscheiden müssen, was gut und was richtig ist. Eine Orientierungshilfe fehlt den meisten. Es gibt keine Familie mehr, in der von den Eltern vorgelebt wird, wie ein verantwortungsvolles Miteinander aussieht. Niemand hat dir was zu sagen, du bist dein eigener Herr - das war schon in meiner Kinderzeit die Botschaft, verbreitet von Kindersendungen wie der "Rappelkiste". Dass dieses eigenverantwortliche Handeln Konsequenzen hat, wird meist verschwiegen. Und Menschen, die selbst Konsequenzen ziehen, sind selten geworden. Davonlaufen ist Mode. Entschuldigung ist Schwäche. Das Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben, kommt dem sozialen Tod gleich.

Und so hat sich ein junger Mann aufgemacht, Rache zu nehmen, an denen, die er für schuldig hält an seinem Dilemma. Er hat sich einen fulminanten Abgang verschafft, weil er keine Zukunft mehr gesehen hat und Hilfe nicht mehr erwarten konnte; weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, die Welt auf sich aufmerksam zu machen. Er hat sich davongemacht, eine Gesellschaft verlassen, die ihn nicht wollte - und möglichst viele von denen, die ihn nicht wollten, mitgerissen in seinen Abgrund.

Ich finde wirklich, wir sollten alle mal nachdenken, ob es nicht besser wäre, wenn wir uns dem Trommelfeuer, das täglich auf uns einprasselt, den Forderungen, die wir kaum erfüllen können, der Hektik und dem Lärm entziehen sollten und uns überlegen, worin der Sinn unseres Lebens eigentlich liegt.

Nachdenkliche Grüsse,

Deine Astrid

©Astrid Steinmann, stonie@wwnw.de 28.04.2002