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Nachdem wir unsere Koffer eingesammelt hatten und meinen Eltern um den Hals gefallen waren, fuhren wir in meines Vaters fahrbarem Untersatz in Richtung Grenze. Ich kannte das alles ja schon und in den Jahren, die ich nicht hier gewesen war, hatte sich an der Straße vom Flughafen zur Grenze kaum etwas verändert. Detlef staunte natürlich sehr. Alles, was an Straße nicht geteert ist, ist rostrot, denn die Erde ist in dieser Gegend reichlich eisenhaltig und immens fruchtbar. Es gibt nicht übermäßig viele Palmen, aber die Bäume, auch wenn es sich um Laub- und Nadelbäume handelt, sehen völlig anders aus als in Deutschland. Auch alle anderen Pflanzen sind ganz einfach anders, selbst wenn es solche sind, wie wir sie in Deutschland im Garten haben. Studentenblumen, beispielsweise, erreichen hier die Ausmaße eines mittleren Gebüschs. Außerdem wächst hier natürlich alles draußen und wuchert mehr oder weniger wild, was wir in Deutschland sorgsam als Zimmerpflanze hegen und pflegen: Azaleen, Hibiskus, Benjaminfeigen, Scheffleras in jeder Form und Güte und so weiter und so fort. Das alles erweckt den Eindruck einer wilden, kaum zähmbaren Natur – der übrigens völlig richtig ist. Wer jemals den Asterix-Band „Die Trabantenstadt“ gelesen hat, kann sich ungefähr vorstellen, wovon ich rede. Hier kann man einen Besenstiel in den Boden stecken, der treibt auch noch aus.

Bei meinen Eltern angekommen, haben wir erst einmal gemacht, was wir uns schon seit Jahren nicht mehr hatten leisten können: Urlaub. Einfach nur im Freien sitzen, das gute Wetter genießen, Spaziergänge machen, Luftschlösser bauen. Was würden wir tun, wenn wir viel Geld hätten? Pläne machen, für das Haus, das wir in Jahren vielleicht einmal bauen würden, ab und zu in die Stadt fahren, gucken was wir uns alles anschaffen würden.

Mein lieber Mann vergaß darüber völlig, daß er ja noch Spanisch lernen mußte und wurde schmerzhaft daran erinnert, als das Arbeitsleben ihn nach fast einem halben Jahr einholte. Ich tat, was ich konnte, konnte ihm aber nicht viel beibringen, denn er hat, wie viele Männer, den Wunsch, von seiner Frau bewundert und nicht belehrt zu werden. So mußte er auf die harte Tour Spanisch lernen. Er bekam eine Anstellung in einer mittelgroßen Firma, die eines Computertechnikers dringend bedurfte und mußte seinen Kollegen und Vorgesetzten in bruchstückhaften Sätzen und mit Händen und Füßen beibringen, was er nun schon wieder von ihnen wollte. Das war reichlich anstrengend, allerdings auch sehr lehrreich für alle Beteiligten. Langsam, aber sicher lernte Detlef Spanisch und mit seinen Sprachkenntnissen wuchs auch sein Bekanntheitsgrad. Er wurde geschätzt und geliebt als der Mann, der Computer so instandsetzt bzw. zusammenbaut, daß sie wartungsfrei funktionieren und der obendrein auch nur für seine Arbeit Geld verlangt, nicht aber für die Ersatzteile. Binnen eines knappen Jahres war er so weit, daß er nicht mehr wußte, woher er die Zeit nehmen sollte, allen seinen Kunden gerecht zu werden.

Was, Kinder kriegen kann man hier auch?

In der Zwischenzeit wurde ich schwanger. Darüber bin ich furchtbar erschrocken, weil einerseits diese Schwangerschaft höchst ungeplant war, andererseits ich mich gezwungen sah, mich Ärzten auszuliefern, die nicht meine Sprache sprachen, nicht in Deutschland studiert hatten und nicht den deutschen Standards folgten. Nach längerem Suchen fand ich schließlich einen ziemlich jungen Arzt, der mir das entsprechende Fachwissen zu haben schien. Er machte Ultraschalluntersuchungen, hörte Herztöne ab, beruhigte mich und so verlief die Schwangerschaft mehr als zufriedenstellend. Das war nicht gerade zu erwarten gewesen, denn als ich mit Christoph schwanger war, habe ich im letzten Schwangerschaftsdrittel eine Gestose gehabt, die mir haufenweise gesundheitliche Probleme und einen Kaiserschnitt eingehandelt hatten. Und eben jenes war nun des Pudels Kern: In Paraguay entbindet jede Frau, die es sich irgendwie leisten kann – und das sind ausgesprochen viele – mit Kaiserschnitt. Und es war genau das, was ich nicht wollte. Ich sagte es meinem Arzt und der runzelte die Stirn, denn für ihn war eine Entbindung gleichbedeutend mit Kaiserschnitt. Wenn ich unbedingt eine natürliche Geburt wollte, könne ich es ja versuchen, meinte er. Sehr überzeugend. Nunja, der große Tag kam. Mit ihm kamen Wehen, etwas was ich vorher nicht gekannt hatte, folglich war mir die Bedeutung des Wortes nur schemenhaft klar. Ich ging also, als die Wehen in Abständen von etwa 10 Minuten kamen, ins Krankenhaus und blieb standhaft. Nun ist das so eine Sache mit der Geburt eines Kindes. Als Mutter hat man einfach keine Zeit, die Atemtechniken, die man vor fast drei Jahren mal völlig vergebens gelernt hat, aus dem Gedächtnis zu kramen und anzuwenden. Dazu braucht man Unterstützung, personifiziert in einer Hebamme. Ein solch hilfreicher Mensch hat in Deutschland bei jeder Geburt anwesend zu sein. Nicht so in Paraguay. Hier sind Hebammen höchst dubiose Gestalten und somit in Krankenhäusern unerwünscht. Also Fehlanzeige mit hilfreichen Geistern. Ich atmete, solange ich konnte, und solange ich mich frei bewegen durfte, war ja auch alles in Butter. Aber da war ja noch meines Arztes Angst um meine schöne Narbe. Also wurde ein CTG (zeichnet die Stärke der Wehen und die Herztöne des Kindes auf) geschrieben und ich dazu flach auf den Rücken gelegt. Wer jemals Wehen hatte, weiß, was das auslöst. Mein Arzt sagte, ich solle nach einem Anästhesisten rufen, bevor die Schmerzen unerträglich würden, es würde etwas dauern, bis einer da sei. Ich wartete leider, bis die Schmerzen unerträglich waren und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Also ließ ich den Schrei nach einem Anästhesisten los, der mich doch freundlichst davon befreien solle. Er kam denn auch, der Warnung meines Arztes gerecht werdend, nach einer guten halben Stunde. Ein ausgesprochen netter Mensch, rabenschwarze Haare und Augen, das halbe Gesicht von einem völlig zerwühlten Bart verdeckt. Er wurde mächtig unwillig, als ich, den Wehen nachgebend, meinen Rücken grade machen wollte, während er mit einer Nadel an meiner Wirbesäule herumfuhrwerkte. Wer will’s ihm verdenken? Er wollte ja nicht gerade eine Querschnittslähmung auslösen. Wie dem auch sei, der Mann verstand sein Handwerk, ich merkte nach wenigen Momenten zwar noch die Krämpfe, aber nicht die Schmerzen. Das ließ meinen Denkapparat wieder anspringen und die erste Frage von meinen Lippen fließen: „Wie hoch sind meine Chancen auf eine normale Geburt?“ Mein Arzt, mittlerweile in todchices OP-Grün gekleidet (man hatte mich zwischenzeitlich in den Kreißsall verlegt), gab mir genau die Antwort, die ich nicht hören wollte: „Genau wie vorher, 50-50.“ „Naja,“ meinte er mit einem nachdenklichen Blick auf mein sorgenvolles Gesicht, „wir wollen mal nachsehen, wie weit der Muttermund jetzt auf ist.“ Sprach’s, zog sich ein Paar dieser hocheleganten Gummihandschuhe über, tastete, gab die Meldung, daß der Muttermund etwa 4 cm weit auf sei (manche Wege sind weit, aber sie müssen gegangen werden; für die, die’s nicht wissen: Er muß 10 cm weit auf sein, damit das Baby durchkann), wir also noch etwas Zeit hätten, zog die Hand heraus, sah etwas perplex auf den Handschuh und hielt ihn hoch: Völlig blutig. „Das,“ so sprach er, „erhöht deine Chancen auf einen Kaiserschnitt auf satte 100%.“ Auf gut deutsch: Die Plazenta war bereits dabei, sich zu lösen, was den üblen Nebeneffekt hat, daß das Kind nicht mehr richtig versorgt werden könnte, wenn die Geburt zu lange dauert. Dieses Risiko wollte er – verständlicherweise – nicht eingehen. Also: Ab in den Op. Mein Mann wurde herbeigeholt, in diese wirklich kleidsame Op-Kluft gehüllt und ans Kopfende des Op-Tisches plaziert, neben den Anästhesisten. Ich bekam etwas auf das linke Bein geklatscht, etwas mehr Betäubung in das Schläuchlein, daß mein narkosekundiger Freund mir im Rücken plaziert hatte, fühlte durchaus noch etwas, aber es tat nicht weh. Der Anästhesist wollte natürlich wissen, woher wir denn kämen: „Ach, ihr seid Deutsche? Und da kommt ihr nach Paraguay? Was macht ihr denn hier? Wie, du bist Computertechniker? Oh, das ist gut, ich brauche nämlich demnächst einen Computer. Was sollte man denn da so kaufen?“ Auf diese Art und Weise führten mein Mann und ich auf bzw. am Op-Tisch Geschäftsverhandlungen, während mein Geburtshelfer ein Gerät in die Hand nahm, das mit einem Mal furchtbar zu knattern anfing. Oh, Schreck! Was ist DAS denn? „Och,“ erklärte der Anästhesist, „da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Das ist eine Art elektrisches Skalpell, das brennt beim Schneiden gleich die geöffneten Gefäße wieder zu. Hat den Vorteil, daß wenig Blut fließt und die Wunde wesentlich schneller heilt.“ Ja, man roch‘s. Mein Mann, der ja auf dem Lande groß geworden war, erzählte was von einem Geruch wie beim Absengen von Schweinen. Feinfühlig, der Junge! Damit war allerdings auch das Dingsbums auf meinem linken Bein erklärt: Ich war geerdet worden! Nach recht kurzer Zeit tat es einen Schrei, und mein jüngerer Sohn hatte das Licht der Welt erblickt. Der Kinderarzt (den ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte), klein, sehr jung und kugelrund, kam um die Ecke gerollt und hielt wie eine Jagdtrophäe mein Kind an einem Arm und einem Bein auf seine Gesichtshöhe: „Das ist dein Kind, alles bestens, alles dran.“ Der arme kleine Kerl war ganz blau. Dann verschwanden beide aus meinem Gesichtsfeld. Ich schickte einen hilfesuchenden Blick in Richtung Narkosedoktor: „Sind die immer so blau, wenn sie gerade aus dem Bauch kommen?“ Der Arzt sah mich etwas erstaunt an und sagte, das wäre alles in Ordnung. War’s auch. Aber wenn man im Ausland ein Kind kriegt und noch dazu auf einem Operationstisch angeschnallt ist und nicht hinterherlaufen kann um zu gucken, ob alles seine Ordnung hat (schließlich muß der Bauch hinterher zugenäht werden, das dauert sehr viel länger als das Aufschneiden), muß man ja auch dumme Fragen stellen.

Benni war um 23.00 Uhr (ganz exakt) Ortszeit geboren, etwa eine dreiviertel Stunde später war ich in meinem Zimmer. Der Anästhesist hatte gesagt, ich solle keine Dummheiten machen und mich nicht großartig rühren, er würde am nächsten Tag nochmal nach mir sehen.  Mein Mann war auch wieder da und dann kam eine knuffige, kleine Schwester und brachte mir meinen kleinen Jungen. Er schlief, wachte aber später auf und ich konnte ihn an die Brust nehmen, damit er schon ein bißchen zu nuckeln anfing. Detlef half mir, denn ich sollte ja auf dem Rücken liegen bleiben und so hatten wir nun die selige Idylle, die ich mir schon im Krankenhaus in Deutschland so sehr ersehnt, aber dort nicht bekommen hatte. Um etwa ein Uhr morgens kam die Schwester und nahm Benedikt mit, mein Mann ging nach Hause, ich hätte selig schlafen können. Konnte ich aber nicht. Ich war viel zu aufgedreht. Das war die längste Nacht meines Lebens. Ich wollte nichts mehr, als daß es Morgen würde, Detlef wieder käme, meine Eltern kämen und alle die Frucht neun Monate langen, geduldigen Brütens bewundern mögen. Schließlich nickte ich doch ein bißchen ein. Aber nicht lange. Um sechs Uhr morgens wurde die Tür aufgerissen, herein rauschte der Anästhesist. Er schoß einen ziemlich wilden Blick aus seinem Waldschratgesicht auf mein Bett und verlangte zu wissen wie es mir gehe. Gut, sagte ich, nur hungrig. „Fein. Du darfst aufstehen, ich werde zusehen, daß du etwas zu essen bekommst. Übernimm dich nicht!“ Wutsch, ‘raus war er wieder, schneller als er kam. Der nächste, der hereinkam war leider kein mitleidiger Mensch mit einem vollen Frühstückstablett, sondern mein Frauenarzt. Der schlich müde und gramgebeugt durch die Tür, ein Formular unter dem Arm, ließ sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit, bestehend aus einer Bank neben meinem Bett, fallen und gähnte erstmal herzhaft. Der Ärmste war unrasiert und völlig verwuschelt, es war anzunehmen, daß während der Nacht ein weiterer Erdenbürger mit seiner freundlichen Unterstützung das Licht dieser Welt erblickt hatte. Er fragte mich auch, wie es mir ginge, sah sich die Narbe an, ordnete einen neuen Verband an, und füllte sein Formular aus. Dann ging er, hoffentlich ins Bett.

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